Harakiri

Nach drei Tagen neben, über und in einer öligen, stinkenden und höllisch lauten Maschine war die Herbstsonne am Abreisetag eine wahre Wohltat. Allerdings sitzen Amerikaner nicht gerne draußen, Gastgärten oder Terrassen sind so gut wie unbekannt. Wem also der Sinn nach etwas nahrhafterem als Eis oder Kaffee steht, der muss sich nach drinnen bequemen, in einen meist dunklen, aber gut klimatisierten Raum, der allerdings den Vorteil hat, dass man sich blind zurechtfindet, weil man ihn schon kennt, wenn man zumindest einmal in einem ähnlichen Lokal war. Genau das, was ich mir bei angenehm mildem Herbstwetter gewünscht habe. Aber ich wollte ja vorbereitet sein und im Flieger auf die bekannte Frage „Chicken or Pasta?“ überzeugt „Neither!“ antworten können.

Das Longhorn Steakhouse lockte mich mit der Ankündigung von „never frozen meat“ und günstigen Lunch-Angeboten. Und letztendlich halfen die Bremer Stadtmusikanten bei der Entscheidung: Was bess’res als Subway, Pizza-Hut oder McDonalds find’st du hier allemal.

„Hi, my name is Hannah, in case you need to search for me.“ wurde ich am Tisch begrüßt, mit einem Lächeln, dem anzusehen war, dass eben das nicht nötig sein würde. Denn wer immer zur rechten Zeit zur Stelle war, aufgetaucht aus dem Nichts bei auch nur dem geringsten Bedürfnis des Gastes, war: Hannah.

Nach einer kleinen sachverständigen Diskussion über Sinn und Unsinn von Käsesaucen auf einem Steak – mit beiderseitig deutlicher Präferenz von Unsinn – einigten wir uns bei der Bestellung auf ein 8 oz Top-Sirloin mit mashed potatoes, das Steak natürlich „rare“.

Die Wartezeit wurde durch ein Samuel Adams „Oktoberfest“ angenehm verkürzt und bald erschien auch Hannah wieder mit einem erfreulich puristischen Teller ohne Schnickschnack und überflüssigen „Sides“, einfach braungebratenes Fleisch und goldgelbes Kartoffelpüree auf einem weißen Teller – farblich hervorragend abgestimmt. „I’ll catch up in a minute to see if everything’s right.“ verabschiedete sich Hannah.

Diese Minute nutzte ich, um mein Steak zu anzuschneiden. Unglücklicherweise war es dem Metzger nicht gelungen, ein gleichförmiges Stück abzuschneiden, so dass auf der geringfügig dünneren Seite, mit der ich begann, eine Spur von „medium-rare“ sichtbar wurde, vielleicht ein Mikro-Irgendwas auf der unendlich fein abgestuften Skala von blutig-rot bis schuhsohlen-grau. Als ich aber die Gabel zum Mund führte und die Röststoffe sich mit dem kühlen Geschmack der inneren Fleischfasern auf der Zunge ausbreiteten und auf den Kapillaren zu tanzen begannen … erschien Hannah und starrte schreckensbleich auf mein angeschnittenes Steak. Mit einem „That’s supposed to be rare, right?“ wollte sie mir den Teller wegnehmen. All meine Beteuerungen, dass das meine Schuld sei, dass ich von vorneherein „rare-medium-rare“ hätte bestellen sollen und dass der Koch das gewusst habe und dass er deshalb gar nicht anders habe handeln können, als dieses Stück exakt so braten, wie er es getan habe … all diese Einwände schienen nutzlos, und ich verfluchte mich, dass ich mein Englisch etwas vernachlässigt habe, denn mit einer anderen Wortwahl, mit einer geschliffeneren Begründung hätte ich sie vielleicht überzeugen können, mir diesen Teller bitte, bitte nicht wegzunehmen.

Und gerade als ich um Worte rang und in Hannahs Augen die wilde Entschlossenheit aufblitzte, genau in diesem Moment sah ich sie im Augenwinkel zum Steak-Messer greifen und mir war klar, dass ich verloren hatte. Bilder von sich ins Schwert stürzenden japanischen Samurai tauchten vor meinem inneren Auge auf und Gerard Depardieu als François Vatel betrat die Szene und blickte traurig von meinen Teller zu Hannah und … ich begann, um meinen Rückflug zu fürchten, weil ich angesichts des zu erwartenden Blutbades doch sicher als Zeuge aussagen müsste.

„I guess you’re the lemon-pie type of guy, right? Or is it cheese-cake?“ strahlte mich Hannah an, nachdem sie meinen Teller gedreht hatte. Ich habe dann darauf verzichtet, ihr zu sagen, dass der lemon pie zwar hervorragend schmecke, eigentlich aber ein „Lime-Vanilla Cheesecake“ sei und dass ich das Rezept von Nicole kennen würde, dass ich den aber schon lange nicht mehr nachgebacken hätte und mich deshalb freue, ihn hier wieder einmal essen zu dürfen. Ich wollte mich auf keine Diskussionen mehr einlassen.

Auf dem Rückflug habe ich mir dann aber überlegt, dass es sicher nicht zeitgemäß wäre, die Wiedereinführung des Harakiri zu fordern, dass es aber doch angebracht wäre, ein wenig mehr Ernsthaftigkeit und Sorgfalt im Handwerk einzuklagen. Zum Beispiel bei Metzgern, die die Kunst der Fleischreifung, so sie sie denn noch beherrschen, eher lustlos betreiben oder bei Bäckern, deren Ehrgeiz offensichtlich nicht zu mehr zu reichen scheint, als Brötchen aufzubacken.

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