Solanin

Ich wohne jetzt seit 2 Jahren in Niedersachsen. Praktisch bin ich damit „Einheimischer“. Und fühle mich auch ein wenig schuldig.

Wenn irgendein Lebensmittelskandal durch den deutschen Blätterwald rauscht, dann sind „wir“ beteiligt: Ob Dioxin in Hühnereiern, EHEC-Keime in Sprossen, Schweine-Pipi im Trinkwasser, immer sind es „wir“. Dabei sind wir eigentlich keine bösen Menschen, zumindest relativ gesehen.

Gut, der Niedersachse hat immer ein wenig Pech gehabt. Bei der Landschaftsplanung sind irgendwie die Berge und Hügel verschütt gegangen (ich war noch nie im Harz). Und so ein Kälbchen, das nicht auf der grünen Alm grast, vielleicht noch eine dralle Sennerin im Arm hält, sieht einfach ein bisschen verloren aus in der norddeutschen Tiefebene. Deshalb räumen wir sie auf, in riesigen Ferienanlagen. Mit Wellness-Angeboten, Kuh-Duschen, Plastikspielzeug für die Ferkelchen – all-inclusive. Aber das ist nicht böse gemeint; wir machen das auch mit Menschen so, im Snow-Dome zum Beispiel, die Natur gibt einfach nicht mehr her, was sollen wir machen?

Und dann bei der Lebensfreude. Da ist bei der Verteilung auch einiges schief gegangen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber auch Babette hatte damit zu kämpfen: protestantisch, fromm, enthaltsam und „Grünkohl mit Pinkel“. Das sitzt ganz tief drin, seit Generationen, seit Jahrhunderten. Aber, sagt meine Marktfrau, das stimmt doch gar nicht mehr, das wird doch immer besser, zumindest langsam. Tja, das stimmt wahrscheinlich; doch, ich glaube fest daran.

Aber ich bin auch stolz auf meine Niedersachsen. Als ich noch Wahl-Bayer war, zum Beispiel, ist mir nie ganz klar geworden, warum Kartoffeln immer bei den Lebensmitteln zu finden waren. Es sei denn, ich hatte mal lange gespart und auf dem Viktualienmarkt ein oder zwei Bamberger Hörnchen oder La Ratte erstanden. Und hier weiß ich gar nicht mehr, wie man ohne Kartoffeln glücklich werden soll. Vergesst die Sorten – die werden ohnehin von der EU vorgeschrieben! Fragt die Bauern, nehmt Bodenproben, es ist ein bisschen wie Schatzsuche. Und immer meist wird man belohnt mit goldgelben Knollen, mit speckigen, mit nussigen, mit wundervollen Aromen. Arme Südeuropäer!

Und doch sitzt auch hier die Angst im Nacken. Kartoffeln sind giftig, auch ohne – oder gerade ohne – Pestizide. Das ist ein wenig in Vergessenheit geraten, müsste aber eigentlich für einen kleinen Skandal reichen: Ein Baby, das 1 kg Kartoffelschalen isst, ist definitiv geliefert! Und wo bleibt der Aufschrei?

Nun, α-Solanin ist kein böses Gift. Böse Gifte kommen von der Industrie, gute Gifte wachsen in der Pflanze, gute Gifte sind „Bio“. Dabei sind die Nebenwirkungen nicht von schlechten Eltern: „
Die akuten Vergiftungssymptome von Solanin sind Brennen und Kratzen im Hals, Magenbeschwerden, Darmentzündungen, Nierenentzündungen mit blutigem Harn, Gliederschmerzen, Fieber, Übelkeit, Brechreiz, Nierenreizungen, Durchfall und in schlimmen Fällen sogar die Auflösung der roten Blutkörperchen, Herzrhythmusstörungen, Störungen der Kreislauf- und Atemtätigkeit sowie Schädigungen des zentralen Nervensystems (Krämpfe, Lähmungen)„, auch Todesfälle wurden berichtet.

Das haben unsere Eltern noch gewusst. Wie anders wären sonst „Salzkartoffeln“ zu erklären?

  • Kartoffeln schälen (der weitaus größte Teil von Solanin und Chaconin befindet sich in und knapp unterhalb der Schale)
  • Kartoffeln in Wasser kochen (Das Kochen kann den Alkaloiden zwar nichts anhaben, allerdings werden die Knollen so ausgelaugt und ein Teil der Giftstoffe landet im Kochwasser)
  • Schalen und Kartoffel-Kochwasser entsorgen (während sonst allerhand in der Gemüsebrühe landete)

Mit kulinarischen Gründen kann das nichts zu tun haben (trotzdem wurde das Rezept leider nicht genauso sorgsam entsorgt wie das Kochwasser, was man in sogenannten Landgasthäusern gerne überprüfen kann).

Warum also ist das in Vergessenheit geraten? Warum quellen Frauenzeitschriften und Food-Blogs über von Rezepten für „Country-Wedges“ und „frittierten Kartoffelschalen“?

Schuld sind wieder einmal die üblichen Verdächtigen, die böse EU und die „konventionelle Landwirtschaft“:

  • Während es noch 1943 eine Kartoffelsorte „Voran“ gab, bei der zwischen 30 und 60 mg/100g Gesamt-Solanin gemessen wurden, haben heute zugelassene Kartoffelsorten etwa 3-7 mg/100g Alkaloid-Gehalt in der Schale (und weitaus weniger im Kartoffelkörper)
  • Bei Schädlingsbefall wehren sich die Kartoffeln mit erhöhter Solanin-Produktion; seit ordentlich gespritzt wird, geschieht das seltener

Ich will niemandem den Spaß an frittierten Kartoffelschalen nehmen, aber es macht mich unruhig, dass das tradierte Wissen über Lebensmittel immer mehr abnimmt und durch Panikmache ersetzt wird. Hey, was war das für ein Aufstand, als das Acrylamid in den Pommes entdeckt wurde! Und die Hersteller von hysterischen Öko-Müttern gezwungen wurden, die Frittier-Temperatur niedriger einzustellen. Und ach! wie klein waren die Meldungen, als sich herausstellte, dass Acrylamid im Gegenteil meist sogar zu niedrigeren Krebsraten führte.

Wenn unsere Bio-Kartoffelbauern jetzt wieder alte Sorten ausgraben, und dafür kämpfen, dass sie sie dann auch verkaufen dürfen, dann ist das löblich. Verspricht das doch im besten Fall eine Wiederbegegnung mit vergessenen Aromen. Wenn sie allerdings nach dem Motto „Alt ist gut“ nicht darauf achten, dass früher auch Leute über den Jordan mussten, und dass man das den Besitzern und Liebhabern von TK-Truhen und Fertig-Nahrung auch sagen muss, dann ist nicht allzu viel gewonnen.

Wenn unsere Züchter vermehrt dünnschalige Kartoffelsorten züchten, weil das früher ein Zeichen für frisch geerntete und damit wenig belastete Ware war, dann sollten sie auch dazu sagen, dass die Kartoffeln sich das nicht gefallen lassen. Weil sie ohne Schutz der Schale einfach mehr Solanin in der Frucht produzieren – schließlich wollen sie nicht gefressen werden, auch nicht von Zweibeinern.

Und wenn der Kunde vermehrt kleine Kartöffelchen verlangt – Udo Pollmer vermutetet, dass sie das tun, weil das auf dem Teller hübscher und kalorienärmer aussieht – dann muss man ihnen sagen, dass die Kartoffeln dann bei gleicher Menge eine größere Oberfläche und damit mehr Gift haben und vielleicht nicht unbedingt für einen Verzehr mit Schale geeignet sind.

Also

Wer auf Nummer sicher gehen will, bevorzugt heute größere Erdäpfel mit dicker Schale.“ (Udo Pollmer)

Oder

Part of the secret of a success in life is to eat what you like and let the food fight it out inside.“ (Mark Twain)