Geschmack unterwegs

Ich gehöre ja nun einer Generation an, der immer mehr Dinge immer schwerer fallen. Sich bücken, zum Beispiel, oder im Autoradio unterscheiden, ob gerade die aktuelle Hitparade läuft oder der Empfang gestört ist. Das nervt und schlägt auf die Stimmung.

Und dann plötzlich – zwischen Frankfurt und Kassel – Stimmen. Menschliche Stimmen, nicht diese aufgedrehten immerlustigen Sprechpuppen. Die Sendung Dolce Vita auf hr1 war auf der “Suche nach dem verlorenen Geschmack“. Ob sie ihn letztendlich gefunden haben, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, weil ich dann tanken musste. Aber ich bin zuversichtlich, dass es gelungen ist. Das klang nämlich alles sehr optimistisch.

Die Moderatorin, Frau Baumeister, hatte den Herrn Meikel Petrana zu Gast und hat nette Fragen gestellt, die Herr Petrana dann nicht beantwortet hat, aber was soll’s – schön war’s und nett war’s. Da war zum Beispiel die Frage, ob der Geschmack vielleicht genetisch angelegt sei? Ja sicher, war darauf die Antwort, schon im Alter von 2 oder 3 Jahren fänden prägende Eindrücke statt. Hä?

Vom Band kamen dann noch Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhöfer zu Wort. Weil die ein neues Buch geschrieben haben, aber auch bei so einem Pressetermin natürlich kompetent und unterhaltsam und ein bisschen besserwisserisch sein können.

Doch, ich hab mich gut unterhalten zwischen Frankfurt und Kassel und hätte optimistisch vor mich hin trällernd weiterfahren können: Falleri und Fallera, der Geschmack ist wieder da! Man muss eigentlich nur die richtigen Produkte kaufen und ein bisschen neugierig sein und vielleicht die Bücher von Herrn Petrana und Frau Meuth kaufen und schon wird alles, alles gut.

Aber vielleicht weil die Fahrt noch lange nicht zu Ende war, oder weil die Rückenschmerzen nicht besser wurden, verflog die gute Laune trotz herrlicher Oktobersonne relativ rasch: Ich habe keine Lust mehr, schuld zu sein!

Ich kaufe das falsche Brot für den Brotsalat – schuldig! Und keiner fragt, warum es überhaupt “falsches” Brot gibt.

Ich habe Lust auf Geflügel, will aber kein ganzes Huhn kaufen – schuldig! Herr Neuner-Duttenhöfer kann’s nicht glauben, dass man Hühner isst, deren Namen man nicht kennt! Und keiner fragt, warum Hühnerteile prinzipiell trocken und fade und öde sein müssen und was man dagegen tun kann.

Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Ich glaube nicht an das Bio-Gedöns, im Gegenteil: Wenn alle Menschen plötzlich Bio kaufen, wird ein Skandal den nächsten jagen. Und auch das Regional-Gedöns jagt mir keine Wonne-Schauer über den Rücken; der glückliche Bauer um die Ecke, der erfahrene Metzger mit zwei Kälbchen und einem Lamm, der fröhlich aus einem Mehlstaub grinsende Bäcker in der Nachbarschaft: alles Schimären; tempi passati.

Ich weiß, Ellja würde – wenn sie dies läse – vehement widersprechen, aber: So können wir uns nicht ernähren! Das reicht für ein paar Liebhaber, die Adressen sammeln wie früher die Briefmarken und ihre Mauritius dann auf dem Teller fotografieren – was in anderen Kulturen leicht als veritable Deformation durchginge.

Warum fragt keiner, ob es denn ein Grundgesetz gibt, das vorschreibt, den Profit der Lebensmittelindustrie über die Gesundheit und das Wohlbehagen der Konsumenten zu stellen? Ob es denn nicht möglich sei, die Agrarsubventionen von den Giftmischern und Geschmacksverhunzern abzuziehen und in eine menschenverträgliche Lebensmittelindustrie zu leiten? Und warum erinnert mich das alles so an die Bankenkrise?

Wir sollten nicht das Ziel aus den Augen verlieren, das Erich Kästner schon anfangs des letzten Jahrhunderts in seinem Gedicht “Bürger schont eure Anlagen!” vorgegeben hat. Wenn ich mich richtig erinnere, dann lautet darin ein Vers: “Legt euch mit den Hühnern schlafen. Wenn es geht: pro Mann ein Huhn.

So, genug geplaudert. Ich muss jetzt zur Rückenmassage.