Wir, also das Zimperlieschen und ich, hatten Besuch. Tante Sophie war da, die kalte Sophie. Das ist nun eigentlich kein besonderes Event, weil die Tante nicht gerade nett ist. Eigentlich sogar eher abweisend und frostig.
Das Zimperlieschen war dennoch richtig hippelig und aufgeregt in den Tagen davor. Weniger wegen der Tante, die kannte sie ja vorher gar nicht, wie sie überhaupt nur wenig kennt; sie ist ja noch so klein.
Nein, Lieschen hippelte, weil wir vorher ausgemacht hatten, dass sie ins Freie darf, wenn die Tante wieder weg ist. Raus in die Sonne, mit Kniestrümpfen und allen Schikanen.
„Wann geht denn die Tante endlich?“
„Ach, Lieschen!“ Ich hatte Angst, sie platzt vor Spannung. „Sophie ist doch noch gar nicht da, Dummerchen, wie soll sie denn da schon wieder gehen?“
„Sie soll gehen, die Tante, wann geht sie denn endlich?“
„Die Tante Sophie ist sehr zuverlässig, weißt du, sie kommt immer am 15 Mai. Jedes Jahr, also auch dieses Jahr. Verlass dich drauf, sie kommt. Und wenn sie erst mal da ist, dann geht sie auch wieder- meist schon abends, nur manchmal bleibt sie über Nacht.“
Und so war es dann auch. Sophie kam pünktlich und verstand Gott sei Dank kein Tomatisch. Sonst hätte sie sicher das dauernde „Sie soll gehen! Sie soll gehen!“ aus dem Gartenhaus gehört. Das hätte peinlich werden können. Aber alles lief glatt: wie jedes Jahr war der Besuch recht frostig und zu allem Elend wollte sie auch noch über Nacht bleiben, brach aber wenigstens gleich nach dem Frühstück wieder auf.
Meine ersten Schritte lenkten mich natürlich sofort ins Gartenhaus, wo ich schon ungeduldig erwartet wurde: „Wo bleibst du denn? Ist sie weg? Hast du mir Kniestrümpfe mitgebracht? Juhuuu! Ich darf raus! Ich darf raus!“
Sophie war kaum um die Ecke, der Himmel war bewölkt. Der Wind – „aus wechselnden Richtungen, teilweise böig“ – war kalt und unangenehm. Ich fröstelte, aber natürlich war Lieschen nicht mehr zu halten. So nahm ich sie also an der Hand und wir gingen zu ihrem neuen Zuhause. Draußen! In der Sonne! Wie eine richtige, erwachsene Tomate!
Ich ließ sie sie allein, ging zur Terrasse zurück, um erst mal zu frühstücken und sah sie dort vorne im Gemüsegarten stehen: anmutig wiegte sie sich im Wind und streckte das Köpfchen der durch die Wolken brechenden Sonne entgegen. Gut, ein wenig kalt war es schon noch und ein bisschen Gänsehaut auf ihren Oberarmen konnte sie nicht verleugnen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Tapferes Lieschen.
Am späten Nachmittag habe ich sie dann noch mal besucht, um nach dem Rechten zu sehen und zu fragen, ob ich ihr nicht doch eine warme Jacke bringen soll. Und ich traf auf ein sehr nachdenkliches Tomätchen:
„Sag mal, wir sind doch hier im Norden?“ fragte sie unerwartet und ich bejahte. „Und du kommst aus München, stimmt’s?“ fuhr sie fort und wieder nickte ich zustimmend. „Na dann.“
„Na dann? Wieso: Na dann? Was meinst du denn damit?“
„Ooch, nur so. Ich habe vorhin mal gegoogelt, was das mit der Tante Sophie so auf sich hat. Und soll ich dir mal was sagen? Die kalte Sophie gibt es hier im Norden gar nicht! Dafür gibt es hier schon am 11. Mai den Mamertus und die Eisheiligen fangen nicht wie im Süden erst am 12. Mai mit dem Pankratius an. Ist ja auch logisch. Normalerweise kommt die kalte Luft ja aus dem Norden und deshalb verschiebt sich das alles um einen Tag.“
„Aber du hast es ja gut gemeint“, sagte sie liebevoll. „Und weißt du was? Ein bisschen kalt war es gestern schon noch.“
Ich hätte nicht gedacht, dass WLAN so weit in den Garten reicht. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass Tomaten so schnell erwachsen und vernünftig werden, wenn sie erst mal draußen stehen dürfen.