Gustatorische Dissonanz

Ich rauche. Und ich kenne Menschen, die mich davor warnen. Und zu allem Elend halte ich diese Menschen nicht für grundsätzlich blöd. Also zumindest nicht alle und nicht immer.

Sowas erzeugt natürlich Spannungen. In den Sozialwissenschaften bezeichnet man das seit Leon Festinger (1957) als „kognitive Dissonanzen“. Die treten immer dann auf, wenn Informationen, Erkenntnisse oder Sinneseindrücke nicht so recht mit dem individuellen Selbstbild in Einklang zu bringen sind. Und solche Unstimmigkeiten werden in aller Regel als ziemlich unangenehm empfunden, kurz: sie machen das Gehirn wuschig und wollen so schnell wie möglich eliminiert bzw. harmonisiert werden.

Und kommt mir jetzt nicht mit dem Vorschlag, das Rauchen aufzugeben. Das hieße, das Gehirn zu unterschätzen, und das sollte man – zumindest in meinem Fall – nicht tun. Da gibt es nämlich noch tausend andere Möglichkeiten, man muss sich da nur mal mit einem Raucher unterhalten, wenn er nicht gerade draußen vor der Tür steht (oder sich – im Sommer – dazustellen).

Um aber jetzt den Nichtrauchern den Wind aus den Segeln zu nehmen, möchte ich ein anderes Beispiel nehmen. Im bekanntesten Experiment von Leon Festinger wurden Freiwillige stundenlang mit einer höllisch langweiligen Aufgabe malträtiert. Anschließend bat man sie, ihren Nachfolgern weiszumachen, dass diese Aufgabe wirklich Spaß mache. Für diese kleine Schwindelei wurde der einen Gruppe eine Belohnung von 1 Dollar angeboten, die andere Gruppe erhielt 20 Dollar. Und schließlich wurde Ihnen noch ein Formular untergeschoben, in dem sie unter anderem die Frage beantworten mussten, wie ihnen denn die Aufgabe eigentlich gefallen habe.

Während die Personen der gut entlohnte Gruppe meist zugaben, dass es unsäglich langweilig war, kreuzte die andere Gruppe unisono an, es sei gar nicht so schlimm gewesen. Offensichtlich war ein Dollar zu wenig, um ihre Lüge vor sich zu rechtfertigen. Weshalb sie kurzerhand die Dissonanz ein wenig reduzierten, indem sie sich selbst belogen.

Diese „Theorie der kognitiven Dissonanz“ gehörte schon immer zu meinen Lieblingen. Es gibt unzählige schöne Experimente (unter anderem eines, indem schmutzige Wörter vorkommen, aber damit will ich die zarten Seelen meiner ausnahmslos jugendlichen Leser natürlich nicht behelligen). Und auch wer sich zunächst sicher ist, „sowas würde ich nie tun!“, der wird sich irgendwann geschlagen geben müssen: Der Mensch ist ein Meister der Lüge und schafft das am besten bei sich selbst. 1)

Mir ist jetzt allerdings aufgefallen, dass es beim Schmecken und Riechen einen ähnlichen Mechanismus gibt:

Seit ein paar Wochen steht vor meinem bevorzugten Supermarkt zweimal die Woche ein Hähnchenbrater, an dem ich vorbei muss, wenn ich den Markt verlasse und meist ohnehin die Geldbörse noch in greifbarer Nähe habe. Und immer riecht es aus dieser Bude herrlich, irgendwie archaisch und verlockend. Und immer tausche ich eine Tüte gegen einen Edelstein. Und immer schmeckt es fürchterlich.

Manchmal – beim Entsorgen der Tüte – ertappe ich mein Gehirn, wie es arbeitet: Schau dir mal das Preisschild an und vergleiche es mit dem Biohuhn bei der Geflügelfrau, was erwartest du? Überleg mal, wie lange die Dinger da schon schmoren, meinst du, das tut denen gut?. Was spricht denn dagegen, einen Vogel zu fangen, mit Gewürzen einzureiben und auf eine Bierdose geklemmt in den Ofen zu schieben? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?

Aber dann sind die Dissonanzen doch irgendwie zu groß und es stellt die Arbeit wieder ein. Es kommt noch so weit, dass ich am freien Willen zweifle!

 

_______________________________________________________________
1) Man hätte sich die Theorie natürlich auch sparen können, weil schon Friedrich Nietzsche wusste: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis; das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz; und endlich gibt mein Gedächtnis nach.“