Fälschung
„Hey!“ zischte die Bedienung von Tisch 4 zu ihrer Kollegin hinüber, „hast du schon die Tageskarte gesehen? Jetzt spinnt er total, der Chef. Los geht’s mit Hochzeitssuppe (mit Markklößchen, Eierstich, Flädle und Maultäschle), danach dann Dreierlei Braten (Kalb, Rind und Schwein) mit hausgemachten Spätzle, Kartoffelsalat und buntem Salatteller. Zum Abschluss: ein Fürst-Pückler-Eis! Aber das ist noch nicht alles! Er dreht total hohl: Cappuccino und Latte Macchiato sind gestrichen, stattdessen Deutscher Filterkaffee mit Bärenmarke. Nichts mehr mit Hugo und Aperol Spritz, nein: als Aperitif gibt’s wahlweise ein Glas Sherry Amontillado oder Campari Orange! Campari-Orange! Ich warte nur noch drauf, dass er die die Möbel rausschmeißt und durch Nierentische ersetzt. Und uns in kleine schwarze Kostümchen mit frisch gestärkten weißen Schürzen steckt! Aber dann bin ich weg! Ich weiß nicht, wie ich meine Handy-Flat zahlen soll, und er tut alles, um die jungen Hipster mit dem Trinkgeld zu verscheuchen! Campari Orange! Am Gärtnerplatz! Fettaugen auf der Suppe, schwere Saucen, hat der sie noch alle? Drüben an Tisch 3 sitzt schon ein Gruftie-Pärchen und schmatzt, was das Zeug hält – Tisch 4 und 5 sind schon leer! Da setzt sich doch keiner mehr hin! In der Küche munkelt man schon, dass es am Nachmittag hausgemachte Torten gibt und alles für Busladungen voll Kaffee-Fahrten vorbereitet ist. Ich muss hier weg! Kennst du ein nettes Dine-In, das noch eine Bedienung sucht? Mit Putenstreifen im Salat, Bärlauch-Ravioli und Kürbis-Risotto? Das darf doch alles nicht wahr sein! Morgen gibt es gefüllte Kalbsbrust mit Kartoffelkroketten und Salatteller; hinten stehen schon kistenweise Maggi-Fläschchen für die neue Tisch-Deko. Glaub mir, wir müssen hier weg, der hält doch keine drei Wochen durch! Am Gärtnerplatz! Mit Senioren-Rabatten, oder was? Ich muss doch auch meine Miete bezahlen! Komm, wir kündigen…“
Original
„So, Herr Z. Sie waren so freundlich, unsere Agentur zu beauftragen, ein zukunftsfähiges Konzept für Ihren Gastronomiebetrieb zu erstellen. Mit erheblichem Aufwand haben wir nach umfänglichen Recherchen und sorgsamen Befragungen das vorliegende Exposé erstellt, das ich Ihnen kurz zusammenfassen will. Sie wissen ja: Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Haha, kleiner Scherz. Aber alle unsere Daten deuten darauf hin, dass es vorteilhaft ist, sich auf die ältere Generation zu konzentrieren. Erstens: sie werden immer mehr. Zweitens: sie werden ihre Rente mit Zähnen und Klauen verteidigen. Drittens: deshalb haben die jungen, hippen keine echte Chance; die Generation Praktikum hat einfach nicht gelernt, sich zu wehren, die Generation Word-War-II aber schon. Harhar, noch ein Scherz. Was bedeutet das jetzt aber für Sie? Nun, auf keinen Fall Weiter-Wie-Bisher! Unsere Befragungen zeigen ganz deutlich, dass diese Generation mit Coffee-To-Go nie richtig warm geworden ist – teilweise wollen die sich sogar zum Telefonieren hinsetzten! Das mag natürlich zum Teil an den gebrechlicheren Knochen liegen, geht aber unserer Ansicht nach viel tiefer: Keiner der von uns Befragten hätte je freiwillig Bärlauch an sein Essen gelassen oder geraspeltes Zitronengras, wenn da nicht dieser übertriebene Jugendwahn gewesen wäre, der ja nun – das zeigen unsere Untersuchungen ganz deutlich – in den letzten Zügen liegt. Back to the roots! Das ist die Zukunft, dort liegt der Erfolg, glauben Sie uns! Hier am Gärtnerplatz werden Sie natürlich dennoch nur überleben können, wenn der Laden brummt. Sie werden deshalb Rollator-Stellplätze brauchen und Defibrillatoren, vielleicht eine Station zur Do-It-Your-Self-Blutdruckmessung. Details entnehmen Sie bitte unserer Hochglanzmappe. Und jetzt bringen Sie und bitte noch ein Kürbisschäumchen und einen doppelten Espresso, aber unauffällig, bitte …“